Ich bin noch ganz benommen. Es fällt mir schwer, einen fröhlichen Input zu schreiben. Mir ist, als wäre ein Sturm über mich hinweggefegt. Aber von Anfang:
Da ich auf meinem spirituellen Weg eine Entscheidung treffen möchte, habe ich mir eine Begleitung gesucht. Nach meinen hier beschriebenen Erfahrungen mit meinem Täter, der meines Erachtens u. a. das Seelsorgegeheimnis gebrochen hat, war das ein mutiger Schritt für mich. Meine Beraterin wusste, was ich erlebt habe und dass diese Beratung auch eine Vertrauensprobe für mich war.
Vor wenigen Tagen hatte ich, nach langer Zeit wieder, einen Termin bei ihr direkt vor Ort. Wegen der Pandemie haben wir miteinander telefoniert, dieses Mal sollte es das erste persönliche Treffen nach langer Zeit sein. Doch auf dem Weg dahin gab es einen großen Stau. Dieser schien immer schlimmer zu werden und so rief ich sie über Freisprechanlage an und sagte ihr ab. Sie ließ mich gar nicht ausreden, sondern reagierte gleich sauer. Ich versuchte ihr meine Situation zu erklären, doch sie hörte gar nicht richtig zu und beendete schließlich das Gespräch.
Einige Stunden später erhielt ich eine E-Mail von ihr. Sie schrieb, dass ich ihre Reaktion als gelbe Karte verstehen solle und wenn ich mich nochmal verspäten würde, es wäre ja nicht das erste Mal gewesen, würde sie mich nicht mehr begleiten können. Ich könne auch selbst diese Begleitung beende, das wäre meine Entscheidung!
Ungläubig schaute ich auf den Laptop! Ja, sie hat Recht, ich war öfter zu spät gekommen. Ich habe ein derbes Problem mit der Pünktlichkeit. Das hat viele verschiedene Gründe und ich kämpfe schon lange dagegen an. Was mich aber stört: sie hat nie erwähnt, dass es sie massiv stört, im Gegenteil: sie hat immer lächelnd meine Entschuldigung angenommen. Nicht einmal hat sie das zu einem Thema gemacht! Es traf mich sozusagen aus heiterem Himmel! Hätte sie es nicht einmal das ansprechen können? Vor allem habe ich nicht erwartet, dass sie die dadurch verlorene Zeit hinten dran hängt, auch bin ich zu ihr zur Kommunität gefahren. Sie stand wegen mir nicht einmal im Regen. Sie war zu Hause.
Meine Freundin tröstete mich am Telefon. Sie sagte dabei einen für mich wichtigen Satz: „Klar wäre es schön, wenn du pünktlich kämest, aber wer sagt denn, dass pünktlich-sein normal ist? Es gibt soviele Kulturen, bei denen Pünktlichkeit nicht wichtig ist!“ Bei den Deutschen ist Pünktlichkeit ein so hoher Wert, dass der Satz „Er/Sie war pünktlich.“ im Arbeitszeugnis aussagt, dass derjenige keine Leistung gebracht hat. Aber welchen Wert hat Pünktlichkeit wirklich?
Ich war mal Mitglied in einem Projektchor, der von mehreren Nicht-Deutschen geleitet wurde. Gleich bei der ersten Chorprobe kam der Hauptleiter eine Dreiviertel-Stunde zu spät. Er erzählte fröhlich und ausführlich, wie und warum er sich verfahren hatte, begann ohne Überleitung zu beten und dann ging die Chorprobe los. Was soll ich sagen? Das Projekt endete mit dem chaotischsten und gleichzeitig fröhlichsten Auftritt, den ich je erlebt habe und das Publikum war begeistert. Es hat keiner danach gefragt, ob die Proben pünktlich anfingen.
Zurück zu meiner Begleitung: Ich habe sie aus meinem Leben entlassen. Ich fühle mich verletzt. Nach all dem, was ich bereits mit geistlichen Leitern erlebt habe, trifft mich diese Auseinandersetzung schwer. Ich habe mich auf sie eingelassen. Ich habe meine Vorbehalte gegenüber Seelsorgern, Coachs usw. beiseite geschoben und mich auf diese Begleitung eingelassen. Sie hat sich genauso verhalten, wie mein Täter, indem sie mir den „Schwarzen Peter“ zugeschoben und das Weiterbestehen dieser Begleitung von meinem Verhalten abhängig gemacht hat: „Wenn du dich daneben benimmst, werde ich diese „Beziehung“ abbrechen!“ Am meisten ärgere ich mich über mich selber. Während dieser „Begleitung“ gab es zwischendurch leise Zweifel bei mir. Ich fragte mich immer wieder, ob sie mir richtig zugehört hatte. Ich hätte da schon diese „Begleitung“ abbrechen müssen.
Das war’s jetzt! Ich werde mich nicht wieder auf eine Begleitung oder Seelsorge o. ä. einlassen! Ich muss mein Herz schützen. Sollte ich noch einmal Rat benötigen, werde ich verschiedene Personen stichpunktartig fragen. Eine Stippvisite, mehr nicht! Ich werde nicht mehr Menschen, die Berater o. ä. sind, mein Herz ausschütten. Immer nur das Nötigste.
Ich denke, das ist auch die Lektion, die ich lernen sollte. „Zufälligerweise“ (ich glaube nicht an Zufälle.) lautete die Herrnhuter Losung an diesem Tag: „Schaff uns Beistand in der Not; denn Menschenhilfe ist nichts nütze.“ (Psalm 60,13) Der beste Ratgeber ist immer noch Gott! AufIhn möchte ich hören!
Gott sei Dank verteilt Jesus keine gelben Karten! Ich wäre längst raus aus Seinem Spiel! Ihm sei Dank habe ich immer wieder eine neue Chance und ich werde bedingungslos von Ihm geliebt! Es gibt kein „Wenn du dich noch einmal daneben benimmst, bist du raus!“ Wie oft ich auch zu Ihm komme und Ihn um Vergebung bitte, Er wird mir wieder und wieder vergeben. – Das nehme ich aus diesem Erlebnis mit: Ich möchte barmherzig mit dem Anderen umgehen, denn ich weiß nicht, wie sehr er vielleicht genau mit dieser Schwäche zu kämpfen hat, die für mich schwierig ist. Ich möchte seine Schwäche umarmen. Mit Gottes Hilfe, nur mit Seiner Hilfe werde ich das schaffen!
Amen.