Ich möchte, dass du die folgenden Tipps als Vorschläge verstehst. Sie sind kein Therapie-Ersatz. Solltest du ernsthaft mit dem Gedanken spielen, Selbstmord zu begehen, dann bitte ich dich dringend, dir Hilfe zu suchen. Unter der 0800/ 111 0 111 bzw. 0800/ 111 0 222 erreichst du bundesweit die Telefonseelsorge. Unter http://www.telefonseelsorge.de kannst du dich auch online per Mail oder Chat beraten lassen. Bitte lass dir helfen!
Ich rede hier von „Täter“ in dem allgemeinen Sinn, um eine Person zu bezeichnen, die etwas getan hat, also als „Tuender“ bzw. „Getan habender“ und nicht im juristischen Sinn.
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Vergebung
Jetzt kommt ein Rat, der dir vielleicht weh tut: Vergib dem Täter! Tu es nicht für ihn, tu es für dich. Tu es, weil du Gott gehorchen möchtest. Tu es, so schnell wie möglich. Vergebung ist ein Prozess. Fang so schnell wie möglich damit an.
Wenn du es nur mit zusammengebissenen Zähnen hinkriegst, dann vergib mit zusammengebissenen Zähnen! Wenn du das nicht hinkriegst, dann bitte Gott, dir dabei zu helfen. Sag Ihm, dass du es nicht kannst und bitte Ihn darum, dir die Kraft dafür zu geben.
Am Anfang reicht es, allgemein Vergebung auszusprechen. Sprich die Vergebung gegenüber Gott aus, nicht gegenüber dem Täter. Du hast den Kontakt abgebrochen, bleibe dabei.
Du wirst im Laufe der Zeit dich an Einzelheiten erinnern, die dich verletzt haben. Dann vergebe konkret diese Details. Vergebung spült das Gift aus der Seele, dass der Täter dir jahre- oder jahrzehntelang eingeflößt hat. Vergebung hält dein Herz weich.
Mir begegnen immer wieder lebende Minenfelder. Das sind Menschen, denen Leid widerfahren ist und die nicht vergeben haben. Sie sind inzwischen so verbittert, dass es schwer auszuhalten ist mit ihnen. Sie erzählen von ihrem Leid, als sei es gestern gewesen. Doch wenn du nachfragst, ist es oft schon mehrere Jahrzehnte her.
Wenn du nicht zu einem lebenden Minenfeld mutieren möchtest, dann vergib! Vergeben heißt nicht, vergessen. Vergeben heißt nicht, dass du mit dem Täter in Beziehung bleiben musst! Vergebung heißt auch nicht, dass du auf eine Anzeige verzichtest, sollte der Täter zusätzlich zum geistlichen Missbrauch noch eine Straftat an dir begangen haben. Vergebung heißt, dass du das an dir getane Unrecht an Gott abgibst. Gott sorgt für Gerechtigkeit.
Du musst auch nicht für den Täter Verständnis haben! Das ist m. E. eine Unsitte des heutigen Christentums. Da wird wohl Humanismus mit christlichem Glauben verwechselt. Es ist nicht deine Aufgabe, den Täter zu therapieren. Du musst kein Verständnis für seine Kindheit aufbringen. Ihm zu vergeben, ist schon schwer genug.
Jetzt, nach über vier Jahren bete ich für meinen Täter. Doch am Anfang, rate ich dir dringend davon ab. Kurz nach dem Kontaktabbruch könntest du durch die Fürbitte erneut eine emotionale Bindung aufbauen. Das tut dir aber nicht gut, also lass‘ es. Wenn du Matthäus 5, 44 ernst nehmen möchtest, dann bitte deine christlichen Freunde, die Fürbitte für den Täter vorübergehend für dich zu übernehmen.
Sorge für dich.
In der Zeit in der ich geistlich missbraucht wurde, habe ich mich fast ausschließlich um den Täter und die Gemeinde gekümmert.
Zum Glück habe ich während meiner Mitgliedschaft meine Freundschaften außerhalb der Gemeinde gepflegt. Zwar ist es dem Täter gelungen, mich innerhalb der Gemeinde zu isolieren, doch an meine externen Freunde kam er nicht ran. Das gab mir Halt.
Wenn du aus der Missbrauchsituation raus bist, dann sorge für dich. Vielleicht hast du viel Zeit und Energie in den Täter und die Gruppe gesteckt. Dann kümmere dich jetzt wieder um dich. Brauchst du im Moment einfach mal Zeit für dich, dann nimm‘ dir die Zeit. Wenn du lieber etwas unternehmen möchtest, dann suche dir etwas, was dir wirklich Freude macht. Bei der Suche nach neuen Freizeitaktivitäten solltest du darauf achten, dass du nicht wieder der-/ diejenige bist, der sich kümmert oder Probleme löst. Entscheide dich lieber für den Kegelclub, als für die Mitarbeit im Vorstand vom ehrenamtlichen Verein. Das kannst du später immer noch tun. Aber jetzt ist erst einmal „just for fun“ dran.
Kegelklub ist ein gutes Stichwort. Wir Deutsche brauchen unsere Vereine, weil wir so schwer „warm werden“ miteinander. Ein Club, ein Verein ist eine gute Idee, wenn man etwas sucht, das regelmäßig stattfindet und man neue Leute kennenlernen möchte, zu denen man anfangs auch eine wohltuende Distanz wahren kann. Ich bin einige Zeit nach meinem Gemeindeaustritt in einen Chor reingegangen. Es tat mir einfach gut, wieder zu singen und mit Gleichgesinnten zusammen zu sein. Inzwischen habe ich den Chor gewechselt. Aber die Musik habe ich mir wieder in mein Leben zurückgeholt.
Mach was Kreatives oder fang an, was zu sammeln. Vielleicht fängst du auch ein Hobby an, das total sinnfrei ist, dir aber Spaß macht. Kronkorkenweitwurf klingt absurd, aber es gibt immerhin eine Facebook-Gruppe für diesen „Sport“.
Vor allem sorge dafür, dass du Freunde außerhalb deiner zukünftigen Gemeinde hast. Gott sollte im Leben an erster Stelle stehen, aber nicht deine Gemeinde! Ich integriere mich vorsichtig wieder in eine Gemeinde. Doch halte ich sie mir auf Distanz. Sie ist nicht mehr mein Dreh- und Angelpunkt. Das ist Narzissten-Prophylaxe. Je mehr du außerhalb der Gemeinde Kontakte hast, umso mehr Möglichkeiten hast du, die Aussagen eines Narzissten auf die Wahrheit zu überprüfen. Wenn du nach seiner Aussage „total unbeliebt“ bist, kannst du mit den Schultern zucken, wenn du in der Band, im Malkreis usw. gern gesehen wirst.
Zieh‘ die Reißleine
Geistlicher Missbrauch funktioniert nur mit einem entsprechenden System. In der Regel ist es nicht nur der Leiter oder Pastor, sondern auch die Gemeinde, die diese Spielchen zumindest nicht stoppt. Ich persönlich habe erfahren, dass es in freikirchlichen Gemeinden schwierig ist, über negative Erfahrungen mit Pastoren/ Leitern zu reden. Es wurde mir oft nicht geglaubt oder sogar unterstellt, dass ich mich nicht unterordnen wolle. Oft genug wird gepredigt, dass man als Christ unbedingt Mitglied einer Gemeinde sein müsse. Ich halte diese Zusage generell für richtig! Doch sie trifft nicht immer zu. Wenn du von Pastoren oder Leitern und anderen Menschen, die behaupten, Christen zu sein, verletzt wurdest, dann darfst du nicht nur aus einer Gemeinde austreten, sondern auch eine Zeitlang ohne Gemeinde sein!
Entzieh‘ dich dem Mileu, das dich verletzt hat und weiter verletzt. Das klingt hart, aber meine Erfahrungen in anderen freien Gemeinden nach dem Missbrauch hätten mich fast den Glauben gekostet. Es ist ok, sonntags zu Hause zu bleiben. Ich höre schon diverse Leute protestieren. Es wurde mir und vielen anderen eingetrichtert, dass man sonntags in den Gottesdienst zu gehen hat. Wie geschrieben: Generell richtig, aber nicht, wenn du von einer Gemeinde verletzt wurdest und evtl. immer noch wirst. Lass dir Zeit bei der Gemeindesuche. Wenn dein Partner, deine Familie noch in der anderen Gemeinde ist, dann ist das sicher schwer durchzusetzen. Aber denke daran, dass du ein Recht hast, für dich und deinen Glauben zu sorgen. Glaube wird nicht allein durch einen regelmäßigen Gottesdienst genährt. Damit im Zusammenhang steht mein nächster Vorschlag:
Vernachlässige nicht deine Gebetszeit
Als ich in keine Gemeinde ging, habe ich mir selbst Literatur gesucht. Endlich habe ich angefangen, mich mit christlicher Mystik zu beschäftigen. Das wollte ich schon länger. Aber durch gemeindeinterne Bibellesepläne und das Durchlesen von geistlichen Büchern in Hauskreisen bin ich immer nicht dazu gekommen.
Ich habe mir eine neue Bibel bestellt, mir im Internet gute Predigten gesucht und beim Bestellen im online-Kaufhaus intensiv die Empfehlungen unter „Kunden kauften auch..“ gelesen. Ich habe mich da richtig durchgeklickt. Dadurch bin ich auf Bücher gekommen, die ich, wäre ich in der Gemeinde geblieben, nie gelesen hätte. Die neue Bibel war wichtig für mich. Der Pastor hatte ständig seine Lieblingsübersetzung angepriesen. Jetzt fing ich wieder an, Bibelübersetzungen miteinander zu vergleichen. Dadurch, dass ich nicht regelmäßig „bepredigt“ wurde, war ich offen für neue Interpretationen. Mir sind plötzlich Bibelverse aufgefallen, die vorher nicht in meinem Fokus waren. Ich habe sie vorher nicht wahrgenommen.
Auch für neue Gebetsformen war ich offen. Kontemplativ beten d. h. still werden und sich nur auf Gott zu konzentrieren, war ein neuer Weg für mich. Während der Einkehrtage bekam ich einen Rosenkranz geschenkt. Jede Perle in die Hand nehmen und dabei „Jesus Christus, erbarme dich meiner!“ ist nicht meins. Aber ich habe es ausprobiert. Es gibt wesentlich mehr Gebetsformen, als mir bewusst war. Erst im Nachhinein wurde mir bewusst, wie sehr ich mich habe einengen lassen.
Deswegen schlage ich dir vor, auch bisher ungewohnte Wege zu gehen. Probiere dich aus. Hinterfrage bisherige Lehren. Lese die Bibel die neu, ohne den mahnenden Pastor im Hintergrund.
Mein Credo seit meiner Erfahrungen in Freikirchen: Lies selbst! Denke selbst! Glaube selbst!
Überlasse dich Gott
Nein, ich habe mich nicht verschrieben. Es heißt nicht „Überlasse es Gott.“, sondern „Überlasse dich Gott!“. Ich habe geschrieben, dass ich überrascht war, welche Mittel und Wege Gott genutzt hat, um mich zu heilen. Es gibt Christen, die lehnen das Fernsehen komplett ab, aber durch eine Fernsehsendung hat Gott mich wieder erreicht. Auch hat mir das vorübergehende Fernbleiben von Gottesdiensten gut getan. Genau dieses Alleinsein hat mich zu Gott gezogen. In der Stille konnte ich wieder Seine Stimme hören.
Inzwischen fällt es mir leichter, mich frei davon zu machen, „was die Leute sagen“. Einige Ratschläge mögen ihre Berechtigung haben, aber wenn ich durch die Gemeinde stark verletzt wurde, dann gießt der Rat-Schlag „Geh in eine Gemeinde!“ nur noch Öl ins Feuer. Gott hat Sein eigenes Tempo und Seine eigenen Themen! Du tust gut daran, dich von Ihm führen zu lassen.
Finde deinen Stand in Christus!
Ausgerechnet mein Täter reichte mir das Buch, das wesentlich zu meiner Heilung beitrug: „Neues Leben – Neue Identität“ von Dr. Neil T. Anderson. Solltest du noch nicht mit jeder Faser deiner Seele verstanden haben, dass Gott dich bedingungslos und leidenschaftlich liebt – lesen! Lies es! Inhalier‘ es! Kau‘ es gut durch!
Ich bin keine Freundin von Büchern alá „In 12 Schritten zum siegreichen Christsein“. Auch habe ich meine Fragen an den Autor, sehe Einiges kritisch. Doch dieses Buch kann dir wirklich helfen, wenn du dich darauf einlässt.
Für mich war das zweite Kapitel besonders wichtig. In einem Abschnitt stehen lauter Bibelstellen, mit Aussagen, was du in Christus bist. Ich habe diese Liste täglich laut und langsam gelesen. Das habe ich mehrere Wochen getan. Eine Besserung habe ich nicht gleich gemerkt. Aber plötzlich gab es Situationen in denen ich selbstbewusster reagierte. Ich merkte, dass ich anfing, Aussagen zu hinterfragen. So ließ ich mich nicht beirren, als eine Verkäuferin mir erklärte, dass das lachsfarbene Oberteil mir super steht. Ich vertraute stattdessen dem Spiegelbild, das mir erzählte, dass ich darin blass aussehe und verließ den Laden. Das ist nur ein kleines Erlebnis. Aber kleine Anfänge sind wichtig. Mein Täter hat es in wenigen Jahren geschafft, dass ich mehr seiner Meinung vertraut habe, als mir selbst.
Nutze Symbole
Jetzt kommt ein ungewöhnlicher Vorschlag. Aber manchmal erfordern ungewöhnliche Situationen ungewöhnliche Maßnahmen.
Eines Tages fiel mir auf, dass ich meine Vergangenheit nicht loslassen kann. Es gab ein Thema, dass regelmäßig hochkam. Plötzlich verstand ich Lukas 9,62 „Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.“ Wenn ich mich wieder und wieder mit meiner Vergangenheit beschäftige, dann werde ich nicht vorankommen und kann auch nichts für Gott tun.
Ich merkte, dass ein „Halt! Stopp!“ nicht reichte. Also dachte ich mir eine Symbol-Handlung aus. In meinem Bastelkram für das Kinderprogramm gibt es eine Vorlage für einen Papiersarkophag. Ich bastelte also den Sarkophag. Dann beschriftete ich kleine Zettel mit meinen unerfüllten Wünschen, Enttäuschungen, seelischen Verletzungen. Ich stopfte sie in den Sarkophag und gab Jesus im Gebet alles, was ich aufgeschrieben habe. Sinngemäß sagte ich „Ich komm‘ damit nicht weiter. Bitte kümmer‘ du dich darum!“ Danach zündete ich das Papier an.
Solltest du das nachmachen wollen, dann beachte bitte den Brandschutz. Ich habe den Sarkophag auf einen Keramikteller platziert und eine Kanne mit Wasser daneben gestellt. Wenn du dir trotzdem unsicher bist, kannst es auch draußen z. B. auf dem Balkon machen. Du brauchst auch keinen kunstvoll gestalteten Sarkophag, eine zusammengeklebte Papierschachtel tut es auch. Ich fand nur die Symbolik dahinter, die tote Vergangenheit endlich zu beerdigen, ganz passend.
Meine Liste an Vorschlägen ist nicht vollständig. Aber es soll nun genügen. Wichtig ist mir, dass du weißt, dass es Vorschläge sind, die mir geholfen haben. Für dich können ganz andere Schritte wichtig sein. Bis auf die Vergebung, da denke ich, wirst du nicht drum rum kommen, einen Weg zu finden, wie du vergeben kannst. Du wirst sonst Opfer bleiben.
Ansonsten gehe deinen Weg. In deinem Tempo, in deiner Reihenfolge. Aber geh‘ ihn! Bleibe nicht sitzen in deinem Kummer. Zieh dich nicht auf Dauer von den Menschen zurück!
Geh, es lohnt sich!