
Manche Lieder sind geradezu prädestiniert, in bestimmten Stimmungen gesungen zu werden. Ein lauschiger Sommerabend, man sitzt noch gemütlich beisammen und einer fängt an zu singen – richtig: „Der Mond ist aufgegangen“.
Schon als Kind mochte ich das Lied. Besonders die dritte Strophe:
„Seht ihr den Mond dort stehen,
Er ist nur halb zu sehen
Und ist doch rund und schön.
So sind wohl manche Sachen,
Die wir getrost belachen,
Weil unsre Augen sie nicht seh’n.“ (Matthias Claudius)
Die Strophe war ein kleiner Trost für mich. Denn irgendwie fühlte ich mich nicht richtig gesehen.
Heute denke ich manchmal auch, dass Viele nicht richtig gesehen werden. Meine Straßen-Kumpels zum Beispiel. Wenn ich mich mit ihnen unterhalte, dann frage ich sie manchmal um Rat. Ich bin immer wieder erstaunt, wieviel Weisheit aus ihnen spricht. Oder Kinder. Wenn ich genauer hinschaue, kann ich oft die Einschätzungen von anderen Kursleitern nicht bestätigen. Das Kind, das kritisiert wird, wird häufig missverstanden. Oder Künstler. Sie werden gefeiert, aber dass sie sensibel und auch nur Menschen sind, wird selten gesehen.
Im (a)sozialen Netzwerk wird abgelästert, was das Zeug hält. Einer macht einen Fehler und viele urteilen darüber. Der Post wird auch ganz schnell geteilt. Ein Lob dagegen bekommt kaum Likes.
„Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der Herr aber sieht das Herz an.“ (1. Samuel 16,7) heißt es in der Bibel. Gott sieht ins Herz. Gott übersieht nicht. Als Jesus unter dem Baum stand, in dem Zachäus saß, „blickte er auf und sah ihn…“ (Lukas 19,5).
Zachäus wollte eigentlich nur selbst sehen, aber nicht unbedingt gesehen werden.
Maria preist Gott dafür, „dass er angesehen hat die Niedrigkeit seiner Magd;“ (Lukas 1, 46)
Hagar, die von ihrem Herrn Abram weggelaufen ist, nennt Gott „Gott, der (mich) sieht“ (1. Mose 16, 13)
Es ist tröstlich zu wissen, dass mein Gott mich ganz sieht. Nicht nur halb, wie andere Menschen. Er sieht mich mit meinen Schönheiten, Träumen, Talenten, auch mit meinen Verletzungen, Ecken und negativen Gedanken. Während Menschen mir oft genug eine falsche Motivation unterstellen, sieht Gott, warum ich etwas wirklich tue.
Auch ich möchte sehen, wie der Mensch wirklich ist. Ich möchte mich daran erinnern, wie schmerzhaft es ist, nicht gesehen zu werden oder falsch gesehen zu werden.
Ich möchte jemanden nicht belachen, weil meine Augen die verborgene Seite nicht seh’n. Denn Gott sieht die Ungesehenen und liebt sie. So bin ich aufgerufen, das Ungesehene und Ungeliebte zu sehen und zu lieben.
Wenn ich nicht mit liebenden Augen sehen kann, dann möchte ich mit den Worten des Blinden bitten „Herr, dass ich sehend werde!“ (Lukas 18, 41)
Amen.