Heute mal wieder eine ältere Geschichte. Passend zum gestrigen Sonntag.
Ich liebe meine Frau. Ich liebe sie wirklich. Leider sehen wir uns nicht oft. Viel zu selten. Wenn ich dahin gehe, wohin mein Auftraggeber mich ruft, dann treffe ich meine Frau. Ich komme, sie geht. Ein kurzer Händedruck, eine flüchtige Umarmung, dann sind wir wieder getrennt.
Die Menschen lieben mich nicht. Sie sehen in mir eine Bedrohung, eine Strafe. Ich sei kalt und herzlos. Sie denken, ich würde willkürlich entscheiden, bei wem ich meine Aufgabe erfülle. Ich habe nichts zu entscheiden. Mein Auftraggeber schickt mich. Ich erfülle nur meine Pflicht. Einmal habe ich mich mit meiner Frau auf der Frühchenstation getroffen. Sie hatte ein neugeborenes Kind auf dem Arm. Vorsichtig legte sie es in meine Hand. Es ist mir schwer gefallen, dieses Kind zu berühren, aber ich hatte meinen Auftrag zu erledigen. Die Eltern standen hilflos daneben. Sie taten mir Leid. Dieses eine Mal fragte ich meinen Auftraggeber nach dem „Warum“. Er zeigte mir, was passiert wäre, wenn ich dieses Kind nicht berührt hätte. Seitdem frage ich nicht mehr. Er weiß, was er tut.
Die Menschen sind eigenartig. Sie fürchten mich und reißen dumme Witze über mich. Das würde mich nicht so sehr stören, würden sie meine Frau an ihrer Seite bemerken. Meine Frau ist wunderschön. Sie ist fast perfekt. Sie lacht herzlich und gern. Auf der Stirn ist ein kleines Muttermal, herzförmig. Viele Menschen sehen nur dieses Muttermal. Sie sehen nicht die Schönheit, sondern konzentrieren sich nur auf diesen, wie sie meinen, störenden Fleck.
Meine Frau liebt Umarmungen. Ich erfülle meine Aufgabe, indem ich die Menschen berühre, meine Frau möchte von ihnen umarmt werden. Sie wird viel zu selten umarmt. Oft merken die Menschen erst, dass sie da ist, wenn ich mich ihnen nahe. Dann klammern sie sich an ihr fest und wollen nicht loslassen. Manchmal klammern sie so sehr, dass meine Frau blaue Flecken bekommt. Das ist schwer zu ertragen für mich. Ich würde dann gern meine Frau trösten, sie umarmen und ihr die blauen Flecken wegküssen. Doch ich muss meine Aufgabe erfüllen. Ich muss den Menschen berühren und ihn wegführen.
Die Menschen sind wirklich eigenartig. Viele heißen mich nicht willkommen, aber die Gegenwart meiner Frau genießen sie auch nicht. Sie umarmen sie nicht und nutzen nicht die kurze Zeit, die ihnen zusteht. Manche stoßen sie sogar von sich und rufen mich sehnsüchtig herbei. Sie denken, sie dürfen selbst entscheiden, wann sie von mir berührt werden. Sie kennen meinen Auftraggeber nicht.
Dann schauen meine Frau und ich uns ratlos an und warten darauf, welchen Auftrag ich bekomme. Andere wiederum können einfach nicht mehr. Die Schmerzen sind zu groß, die Last der Krankheit ist zu schwer. Sie bitten meinen Auftraggeber, mich zu ihnen zu schicken. Dann komme ich und berühre sie sanft. Langsam und leise verlässt meine Frau den Raum.
Ganz selten erleben wir es, dass wir beide willkommen sind. Wenn ich zu solch einem Menschen komme, dann strahlt mich meine Frau glücklich an. Sie wurde von ihm fest umarmt und gehalten. Die kurze Zeit wurde ausgiebig genutzt und der Mensch ist bereit, mit mir zu kommen.
Wenn ich auf einen Menschen treffe, der sich ohne Furcht von mir führen lässt und mein Auftraggeber erwartet ihn bereits mit offenen Armen, dann bin ich ein wenig neidisch auf ihn. Das traut mir keiner zu. Aber wenn mein Auftraggeber auch mich so freudig begrüßen würde, wie diesen Menschen…
Aber so tue ich nur meine Pflicht und gehöre nicht zur Familie.
Manchmal werde ich nicht gerufen, um zu berühren, sondern um zu erinnern. Dann flüstere ich dem Menschen ins Ohr „Vergiss nicht, dass es mich gibt!“ Oft drehen sich die Menschen dann verwundert um, sehen meine Frau und umarmen sie. Lächelnd ziehe ich mich dann zurück.
Ich muss schließen. Mein Auftraggeber ruft. Ein junger Mann fährt auf einer Landstraße mit seinem Kumpel ein Rennen. Er hat sich Mut angetrunken und lacht mich aus. Ich werde an der Kurve, direkt am Baum auf ihn warten – und ihn berühren.