Es gibt eine Unart, die m. E. immer mehr um sich greift: Verständnis haben für das böswillige Handeln von Menschen. Ich halte allgemein Verständnis für eine gute Sache. Doch finde ich, dass sie Grenzen hat. Nämlich dann, wenn all das Verständnis dazu führt, dass Verbrechen und mutwillige Bosheit nicht mehr als solche gesehen werden! In den sozialen Netzwerken wird oft beklagt, dass in Deutschland der Täter- vor dem Opferschutz steht. Auch das milde Strafmaß wird oft bemängelt. Oft genug wird eine geringe Freiheitsstrafe mit der schlechten Kindheit des Täters begründet. Wir sollen Verständnis haben. Doch ist das sinnvoll?
Wir Christen sind inzwischen so weichgespült durch die Predigten, dass wir schon gar nicht mehr merken, dass der Aufruf zum Verständnis komplett an der Bibel vorbei geht. Zumindest in meiner Bibel steht nirgendwo, dass Jesus dazu aufruft, Verständnis zu haben. Er spricht davon, dass wir lieben, den Anderen höher als uns selbst achten, wir demütig sein sollen. Aber nirgendwo steht ‚Habt Verständnis für die, die euch Böses tun!‘
Wie schmerzhaft es sein kann, wenn man gesagt bekommt, dass man Verständnis haben soll, habe ich selbst erlebt.
Im Moment arbeite ich meine Verletzungen auf, die mir durch geistlichen Missbrauch zugefügt wurden. Am Anfang habe ich noch versucht, anderen Christen davon zu erzählen. Doch statt des erhofften Trostes bekam ich nur Sätze wie „Ein Pastor ist auch nur ein Mensch!“ zu hören.
Besonders wütend machte mich eine Definition von geistlichen Missbrauch. Da stand sinngemäß, dass die Täter in der Regel die ihnen anvertrauten Menschen ganz unabsichtlich missbrauchen. Es sind halt Narzissten und die sind sich der Folgen ihres Handelns nicht bewusst. – Ich widerspreche! Narzissten wissen ganz genau, dass sie den anderen verletzen. Sie bemerken es, es ist ihnen aber egal!
Wer schon einmal mit einem Narzissten zu tun hatte, weiß, wovon ich rede. Solche Anmerkungen tragen nur noch dazu bei, dass die Taten der Täter verschleiert werden. Was wäre, wenn es um sexuellen Missbrauch ginge? Würde man da auch sagen „Der arme Pädophile kann nichts dafür. Er folgt bloß seinem Trieb!“ – Das ist mein doppeltes Leid: Der geistliche Missbrauch an sich und, dass mein Leid nicht als solches nicht anerkannt wird!
Es kann nicht angehen, dass von mir noch erwartet wird, dass ich Verständnis für meinen Ex-Peiniger aufbringe! Die Kindheit meines Ex-Pastors interessiert mich nicht. Mich interessiert nicht, warum er zum Narzissten geworden ist. Das Wissen darüber macht mein erlebtes Leid nicht einen Deut besser und mich auch nicht heil.
Es gibt ein Verstehen, was mir das Leid leichter machte: Als ich erkannte, dass mein Ex-Peiniger nicht nur mit mir persönlich so umgegangen ist, sondern mit jedem anderen auch, der nicht bereit war, ihn widerspruchslos anzuhimmeln.
Auch das Verstehen oder eher das Ahnen, warum Gott das zugelassen hat, hilft mir weiter. Als ich meinen Halt bei diesem Menschen suchte, war Gott mir zwar wichtig, aber nicht mein Ein und mein Alles. Als ich mich verletzt von Christen und Gemeinden zurückgezogen habe, war ich offen für Gott. Ich hatte keinen Menschen mehr, auf den ich mich auf geistlicher Ebene verlassen wollte und konnte. Für kluge Ratschläge, Seelsorge, Predigten, schlaue christliche Ratgeberbücher war ich nicht erreichbar. Da sprach Gott in mein Leben rein. Er begegnete mir auf unübliche Weise, berührte meine Seele. Heute ist Er mein Ein und Alles, meine Sehnsucht und ich liebe Ihn, weil er mich zuerst geliebt hat.
Bei Ihm fühle ich mich sicher und geborgen. Das möchte ich nicht missen.
Ich muss kein Verständnis für meinen Ex-Pastor haben. Das Einzige, womit ich aktiv zu meiner Heilung beitragen kann, ist die Vergebung. Meinem Ex- Pastor zu vergeben, war schon schwer genug!
Lasst uns also aufhören, uns wohlgemeinte Ratschläge, die wir irgendwo aufgeschnappt haben, um die Ohren zu schlagen! Wenn du nicht weißt, was du sagen sollst, dann sag‘ nichts! Hör zu. Das reicht oft schon. Wenn der Andere in einer Krise steckt, die du selbst nicht kennst und du dir auch nicht vorstellen kannst, wie es ihm wohl gerade geht, dann lass die Ratschläge bleiben!
Wenn nicht anders, dann bete mit ihm. Denn Gott ist sowieso der beste Ratgeber!